DAS GEMEINSAME MORGEN – Der Salon zu Zukunftsperspektiven im Nahen Osten

DAS GEMEINSAME MORGEN – Der Salon zu Zukunftsperspektiven im Nahen Osten

Zwei Jahre Krieg, unzählige Opfer – und plötzlich ein Waffenstillstand. Der sogenannte Trump-Plan bringt Ruhe in den Gazastreifen, aber keine Lösung. In unserem Salon „EIN GEMEINSAMES MORGEN“ suchten Bascha Mika und Tomer Dotan-Dreyfus nach neuen Perspektiven: Wie kann Zusammenleben gelingen – jenseits von Grenzen, Angst und Macht? Eine Idee stand im Raum: ein gemeinsamer Staat mit gleichen Rechten für alle – getragen von Erinnerung, Trauer und der Hoffnung auf Vergebung.

Zwei Jahre Krieg im Gazastreifen – und plötzlich eine Zäsur: Der sogenannte Trump-Plan bringt das, woran kaum jemand mehr geglaubt hatte – ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen. Die letzten israelischen Geiseln werden freigelassen, im Gegenzug tausende palästinensische Gefangene. Für viele Menschen ist das ein Moment des Aufatmens nach endloser Gewalt und Zerstörung. Und doch bleibt die drängende Frage: Was nun?

Denn der Waffenstillstand beendet den Krieg in Gaza, aber nicht das Problem. Einen tragfähigen Weg für das Leben danach gibt es nicht. Niemand weiß, wie Israelis und Palästinenser künftig miteinander existieren sollen – in einem Land, das von Trauma, Angst und Machtungleichgewicht durchzogen ist. Die Suche nach einem gerechten Frieden ist damit keine Infragestellung Israels, sondern Ausdruck der Hoffnung, dass Sicherheit und Gleichberechtigung sich gegenseitig stärken können.

Die Welt ist noch immer aufgewühlt, die Debatten verhärtet, die Zukunft ungewiss. Zwischen moralischer Empörung, Angst vor Antisemitismus und der Sehnsucht nach Verständigung fällt es schwer, Worte zu finden, die weder verharmlosen noch spalten.

In diesem Spannungsfeld suchte unser Salon unter dem Titel „EIN GEMEINSAMES MORGEN“ – lange geplant, und nun von beklemmender Aktualität – nach einem anderen Zugang: nach einem Gespräch, das Differenz aushält und dennoch nach Wegen in die Zukunft fragt. Auf der Bühne: die Journalistin Bascha Mika, bekannt für ihre klare Haltung und Lust am Widerspruch, und der israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus, der in Berlin lebt und in seinen Texten über Identität, Erinnerung und die Zumutungen der Gegenwart schreibt. Gemeinsam entfalteten sie ein Gespräch, das weder versöhnlich noch bequem war – aber genau darin Hoffnung erkennen ließ.

Geleitet von Bascha Mika, die mit präzisen und empathischen Fragen den Raum öffnete, entstand ein intensives, vielstimmiges Gespräch. Es ging nicht um politische Parolen, sondern um die schwierige Kunst, wieder „denken zu dürfen“ – in einer Zeit, in der Denken oft als Bedrohung gilt.

 

Keinheimischkeit: Heimat als Beziehung, nicht Besitz

Im Zentrum stand die Frage nach Identität. Was heißt es heute, Israeli zu sein – oder Palästinenser? Und was bedeutet „Heimat“ in einer Region, in der fast jeder Ort für jemanden ein verlorener ist?

Der neue Begriff von Tomer Dotan-Dreyfus prägte den Abend: KEINHEIMISCHKEIT. Er beschreibt Heimat nicht als Besitz, sondern als Beziehung – als Zustand, in dem man sich gegenseitig wahrnimmt und aushält. „Nicht-Wissen“, hieß es, sei Teil unserer Identität. Diese Einsicht führt mitten in die israelische Wirklichkeit. Nach der Staatsgründung 1948 mussten die Menschen dort „Heimat erst lernen“ – in einem jungen Staat, der zugleich Zuflucht und Konstruktion war. Eine Welt aus Illusionen und Verdrängungen. Vor der Gründung, so wurde erinnert, gab es ethnische Säuberungen. Dabei bleibt unbestritten, dass die Gründung Israels für Millionen Jüdinnen und Juden weltweit bis heute ein historischer Schutzraum ist – eine Konsequenz aus Verfolgung und Vernichtung, die nicht verhandelbar sein darf.

Heute leben Millionen Palästinenser im gleichen Land – aber in getrennten Systemen, mit unterschiedlichen Rechten, Schulen, Gesetzen. Palästinenser seien im israelischen Alltag zwar überall, aber kaum sichtbar. „Eine Gesellschaft, die den anderen nicht sieht, verliert die Fähigkeit zur Empathie.“ Das sei die tiefere Tragödie des Konflikts – nicht nur der Hass, sondern die Unsichtbarkeit.

 

Demokratie im Dauer-Alarmzustand

Die israelische Gesellschaft, so die Analyse, ist müde geworden – politisch erschöpft, moralisch überfordert. Ministerpräsident Netanjahu habe die Demokratie systematisch ausgehöhlt, Gegner geschwächt, Institutionen entleert. Seine Machtstrategie: Krisen erzeugen, um sie zu kontrollieren. „Er ist ein Spezialist darin, den Ausnahmezustand zu verlängern“, hieß es.

Der permanente Alarmzustand lähmt das Denken. Wer ständig in Angst lebt, verliert die Freiheit, sich eine andere Realität vorzustellen. Gleichzeitig verschiebt sich das politische Klima – die Gesellschaft driftet nach rechts, autoritäre Tendenzen nehmen zu. Viele sprachen heute offen von einer „Art Apartheid“im öffentlichen Leben. Die Folge ist ein Land, das sich immer mehr abschottet – und in dem das Nachdenken selbst zum Risiko wird. Schon nach der letzten Wahl wurden Gesetze verändert, um die Gewaltenteilung zu schwächen. Viele trauen dem Ausgang der nächsten Abstimmung nicht mehr. Diese Einschätzungen sind Teil einer innersisraelischen Debatte – sie spiegeln Stimmen aus der israelischen Zivilgesellschaft wider, nicht ein Urteil von außen über das Land selbst.

Gleichzeitig gilt: Israel ist heute – bitter paradox – einer der gefährlichsten Orte für Juden. Der 7. Oktober hat das auf grausame Weise gezeigt. Und doch bleibt das Land für viele der einzige Ort, an dem sie glauben, leben zu können. Zwischen dieser Angst und dieser Sehnsucht zerrieben, sucht Israel nach sich selbst.

 

Frieden braucht mehr als ein Schweigen der Waffen

Der sogenannte Trump-Plan wird vorsichtig begrüßt – er bringt Erleichterung, aber keine Lösung.
„Natürlich ist es gut, dass die Waffen schweigen“, war der Tenor des Abends. „Aber ein Waffenstillstand ersetzt keine Vision.“ Denn das, was den Krieg ermöglicht hat, bleibt bestehen: Misstrauen, Angst, ungleiche Machtverhältnisse – auf beiden Seiten. Frieden, so wurde deutlich, entsteht nicht allein aus Verträgen, sondern aus Gleichheit und Sicherheit zugleich – aus einem Zustand, in dem niemand mehr den anderen fürchten muss.

Einige Stimmen erinnerten daran, dass Besatzung und Kontrolle für Palästinenser das tägliche Leben prägen, während viele Israelis in einem permanenten Gefühl existenzieller Bedrohung leben. Beide Realitäten sind wahr – und sie nähren einander. Solange die einen um Freiheit kämpfen und die anderen um Sicherheit fürchten, bleibt Frieden fragil.

Anwar Sadat sagte 1977 in seiner Rede vor der Knesset: „Wir können nur glücklich leben, wenn auch die andere Seite glücklich ist.“ Diese einfache Wahrheit enthält vielleicht die ganze Komplexität der Gegenwart – und doch ist sie heute schwerer umzusetzen als je zuvor. Eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte von Angst, Gewalt und Verlust geprägt wurde, hört solche Worte kaum noch.

Und dennoch: Jede Phase der Ruhe – so klein sie sein mag – ist ein Geschenk. Sie gibt Zeit zum Nachdenken, zur Erinnerung, vielleicht sogar zum leisen Versuch, sich den anderen wieder vorzustellen – nicht als Feind, sondern als Mensch.

 

Ein Staat, viele Realitäten – aber nur eine Zukunft

Die alte Frage nach der Zwei- oder Einstaatenlösung klang an – aber sie war keine technische, sondern eine moralische. Zwei Nationalstaaten, das sei womöglich ein Übergang, aber keine nachhaltige Antwort. Es würde bedeuten, viele Millionen Menschen wieder zu vertreiben, Grenzen zu ziehen, Identität zu fixieren.

Realistischer – und zugleich anspruchsvoller – erschien die Idee eines gemeinsamen Staates mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Eine Vision, die Israels Existenzrecht nicht infrage stellt, sondern in einer erweiterten Form denkt – als Staat, der zugleich jüdisch geprägt bleibt und demokratisch für alle offen ist. Manche stellten sich einen föderalen Staat vor, mit regionalen Selbstverwaltungen – ein Modell, das Vielfalt und Gleichheit verbindet. Ein fernes Ziel, gewiss. Aber vielleicht das einzige, das moralisch Bestand haben kann.

 

Wenn Erschöpfung zur Hoffnung wird

Beide Seiten tragen tiefe Traumata. Ohne gemeinsame Erinnerung an das Leid, ohne geteilte Trauer, wird es keine Annäherung geben. Doch wie soll gemeinsames Trauern gelingen, wenn Angst und Misstrauen so tief sitzen?

„Vielleicht“, so wurde gesagt, „ist gemeinsamer Hass im Moment realistischer als gemeinsame Trauer.“ Denn politische Führungen auf beiden Seiten leben von der Angst des anderen – ihre Macht wächst aus der Eskalation, nicht aus ihrem Ende.

Und doch: Gerade Erschöpfung kann ein Anfang sein. Wenn beide Gesellschaften müde werden vom Kämpfen und Verlieren, entsteht Raum – für Stille, Nachdenken, Mitgefühl. Zivilgesellschaftliche Stimmen, in Israel wie in den palästinensischen Gebieten, fordern neue Wege und internationale Unterstützung. Ohne Einbindung der Palästinenser wird es keinen Frieden geben – und ohne Israels Sicherheit ebenso wenig.

Nur gegenseitige Anerkennung und gleiche Rechte können Versöhnung tragen.

 

Europa zwischen Schuld und Verantwortung

Europa, besonders Deutschland, steht in der Pflicht. Die bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung, so die Kritik, schade langfristig auch den Juden weltweit – weil sie jede differenzierte Debatte lähmt. Staatsräson darf nicht heißen, alles zu tolerieren, was im Namen Israels geschieht, sondern Verantwortung so zu verstehen, dass sie auch die Zukunft Israels schützt.

Kritik an der israelischen Regierung bedeutet dabei keine Ablehnung Israels, sondern das Gegenteil: Sie ist Ausdruck der Sorge um die demokratische Substanz des Landes – um ein Israel, das jüdisch geprägt bleibt und zugleich offen, rechtsstaatlich und sicher für alle seine Bürgerinnen und Bürger.

 

Das gemeinsame Morgen

Was bleibt, ist keine Lösung – sondern eine Haltung. Die Erkenntnis, dass Zukunft nicht gemacht, sondern gelernt und gelebt wird. Dass Frieden keine heroische Tat ist, sondern das Ergebnis geduldiger, verletzlicher Arbeit an sich selbst.
Vielleicht beginnt dieses Lernen genau hier: in der Bereitschaft, zuzuhören, Ambivalenz zuzulassen, sich nicht im Hass zu verbeißen. „Das gemeinsame Morgen“ entsteht nicht aus Stärke, sondern aus Einsicht.
Der Abend endete leise. Kein Applaus des Konsenses, sondern das Nachhallen einer schwierigen Wahrheit: Dass das Ende der Gewalt noch nicht der Anfang des Friedens ist – aber vielleicht sein erster Atemzug.

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